Über Joss Bachhofer und sein Werk

von: Prof.Dr. Anthony Kauders

 

Als sich die Welt aufmachte, heitere und offene Sommerspiele in München zu feiern, verließ der damals 17-jährige Joss Bachhofer die Stadt und fuhr mit einem Freund in die Türkei. Motto seiner Reise war eine berühmte Strophe der „Animals": We gotta get out of this place (If it’s the last thing we ever do). Das gleichnamige Lied hatte seit Mitte der sechziger Jahre hauptsächlich junge Menschen inspiriert: Die einen zitierten es, um ihre Sehnsucht nach „Freiheit“ Ausdruck zu verleihen; die anderen, um sich von Kriegen in fernen Ländern zu distanzieren. Bachhofer war zwar jung, aber schon damals, Jahrzehnte bevor er sein bislang größtes Kunstprojekt starten sollte, bedeuteten die Worte nicht nur „Freiheit“ oder „Protest“, sondern auch: Nichts Wie Weg. Später würde er das Reisen (die Migration, die Bewegung, die Rückkehr) als „Blutkreislauf“ des Lebens bezeichnen, ohne das die Menschheit nicht zu denken sei.


Im Sommer 1972 ereigneten sich jedoch auch wundersame Dinge. Dreimal, als Bachhofer und sein Freund nicht mehr weiter wussten, passierte unmögliches. Das erste Mal, die beiden hatten gerade ihr gesamtes Geld für die Reparatur ihres arg mitgenommenen R4 ausgegeben, trafen sie im Bazar von Istanbul zwei Freunde aus Schliersee (Einwohnerzahl heute: 6600), die ihnen aus der Patsche halfen. Das zweite Mal, sie waren mittlerweile auf der Rückreise in Griechenland angekommen, streikte das Auto wieder. Kein Geld mehr, um einen richtigen Mechaniker zu bezahlen, saßen sie am Wegesrand. Da kam ein schwarzer Mercedes vorbei, hielt an und ein Schulkamerad aus dem Tegernseer Gymnasium (heutige Einwohnerzahl von Tegernsee: 3600) stieg aus. Er spendierte ihnen ein Essen und die Reparatur des Renaults. Das dritte Mal gab das Auto hinter der jugoslawischen Grenze seinen Geist auf. Jetzt war es ein Nachbar, mit dem Bachhofer ein Jahr zuvor in Griechenland tauchen gewesen war, der einfach so vorbeikam und die Gestrandeten mit ausreichend Geld versorgte.


Wenn wir uns ein Bild vom Künstler und seiner Kunst machen wollen, ist die Reise im Sommer 1972 kein schlechter Anfang. Programm und Zufall, Plan und Fügung, Konzept und Kontingenz: Sie prägen das Leben und die Arbeit Joss Bachhofers seit jeher.
Während seiner Ausbildung zum Fotografen hatte er mit Kunst noch wenig im Sinn. Trotzdem war er umgeben von Künstlern, denn sein älterer Bruder studierte an der Münchner Akademie, und die Atmosphäre dort beeindruckte Bachhofer um einiges mehr als die gedämpfte Stimmung im Fotostudio, wo bei Kunstlicht und schlechter Luft Stillleben und Porträts die tägliche Arbeit bestimmten. Zu dieser Zeit besuchte er mit Freunden das Sommerseminar von Ernst Fuchs in Reichenau an der Rax. Dort lernte er zwei Künstler kennen, deren Werk ihn weniger beeindruckten als die „Unbedingtheit“, mit der sie diese praktizierten. Sie nahmen alles in Kauf, erklärte Bachhofer später, um Künstler zu sein, und das schlug sich in der „Intensität“ ihrer Persönlichkeiten nieder. Noch vor seiner Reise in die Türkei stand also fest: Auch wenn er die Kunst als Kunst noch nicht für sich entdeckt hatte, zeigte er sich beeindruckt von der Kunst als Lebensstil. Und der Zufall wollte es, dass er diesen Lebensstil in München und anderswo hautnah erleben konnte. Schließlich: Es war nicht die schlechteste Voraussetzung für seine weitere Karriere, dass er zur Konfirmation eine Kamera geschenkt bekommen hatte und nicht etwa einen Chemiekasten.


Nach der Lehre zum Fotografen folgten einige Jahre als Reiseleiter, vor allem in Südostasien. Gleichzeitig begann eine intensive Beschäftigung mit dem Buddhismus, die in einem großen Buchprojekt mündete (Milarepa). Die Frage nach der eigenen Wahrnehmung beherrschte von nun an sein Denken, die Skepsis gegenüber etablierten Wahrheiten rückte dabei immer mehr in den Vordergrund. Eine erste Ausstellung im Jahr 1986 bestand noch aus „reiner“ Fotografie. Aber auch das war zu dieser Zeit keine Selbstverständlichkeit, stritten doch die Kritiker immer noch darüber, ob Fotografie überhaupt zur Kunst zähle. Bachhofer beschäftigte sich immer intensiver mit der Materialität von Kunstwerken. Von den Vertretern der Wiener Schule sowie des Land Art zeigte er sich besonders beeindruckt. Lehm, Erde, Blut, Stroh—und nicht nur Pigmente, die Dreidimensionalität suggerieren sollten: Das war neu. Als das Werk von Anselm Kiefer im Münchner Kunstverein ausgestellt wurde, entdeckte er einen weiteren Künstler, der Inhalt und Materialität zu verbinden suchte. Bachhofer begann, die fotografische Oberfläche als Problem wahrzunehmen, das Glatte musste von nun an überwunden werden, wollte er einen anderen Weg gehen als beispielsweise die Becherschüler.


Ab Mitte der Achtziger experimentierte er mit verschiedenen Methoden, um dem „Problem“ Herr zu werden. Zunächst imitierte er eine Technik aus der Stummfilmzeit. So wie die Regisseure des frühen 20. Jahrhunderts einzelne Szenen eingefärbt hatten, um bestimmte Stimmungen zu erzeugen, benutzte Bachhofer Farbfilter, um einzelne „screen shots“, also Aufnahmen von Fernsehbildern, zu verfremden. Die Subjektivität des Fotografen sollte dadurch verstärkt werden. Es folgten Diptychen und Triptychen, die aus verschiedenen screen shots bestanden. Auch diese Assoziationsketten sollten die Fernsehaufnahmen in Frage stellen und neue Interpretationen zulassen. Bald merkte er jedoch, dass diese Form der „Materialität“, die an das Werk von Heinrich Kühn erinnerte, nicht ausreichte. Die Oberfläche blieb ja weiterhin kalt und glatt. Als Antwort darauf entstanden verschiedene Versuche, die Haut der Fotografie zu bearbeiten. So klebte er Abzüge an Leinwände oder kolorierte sie per Hand. Erst nach längerem Suchen fügte er den Fotos eine Gipsschicht hinzu, die den Bildern eine neue Ästhetik verlieh und die sein Werk bis heute prägt.


Das war 1990. Nun kamen verschiedene Dinge zusammen. Die Gipsschicht war die Antwort auf die Frage nach einer neuen Materialität. Diese Materialität konnte aber nur wirken, weil Bachhofer seine Fotos aus lauter DIN-A4-Laserdrucken zusammensetzte, was zum einen an gefaltete Filmplakate erinnerte und zum anderen den immer größeren Formaten die nötige Stabilität für die Gipsschicht verlieh. Nach und nach etablierte sich seine neue Technik. Das Bild—entweder ein eigenes Foto oder eine Aufnahme aus dem Internet bzw. Fernsehen—wurde auf schwarzweißem Laserpapier ausgedruckt; der aus vielen zusammengeklebten Teilen bestehende Ausdruck sodann mit reinen Pigmenten und Pastellkreide eingerieben; der malerische Akt mit Gipsmilch wieder „kaputt gemacht“; und die weiße Fläche schließlich mit einem Lumpen an bestimmten Stellen abgerieben. Das Endprodukt erinnerte zwar an das die bemalte Fotografie, war jedoch nicht mehr das Original.


Das Ganze nennt Bachhofer Hybride Fotografie. In seinen eigenen Worten: „Die Arbeiten sind Hybriden in dem Sinne, dass sie Fotografie und malerische Mittel zu etwas verbinden, das nicht mehr eindeutig Malerei oder Fotografie zuzuordnen ist._[...] Behandelt werden die Wechselbeziehungen von Fotografie und malerischen Oberflächen und die Frage stellt sich, inwieweit sich Aussage und Rezeption eines Fotos durch die malerische Bearbeitung ändern.“


Kommen wir auf letzteres zu sprechen. Es ist nicht nur dieses Wechselspiel, dass die Auseinandersetzung mit den Arbeiten Bachhofers bestimmt. Denn verschiedene Ebenen lassen sich ja wahrnehmen. Da ist zunächst das Foto (erste Ebene), das auf zusammengeklebtes Papier gedruckt ist (zweite Ebene). Es folgt die Malerei (dritte Ebene), die wiederum durch Gips „entstellt“ wird (vierte Ebene). Archäologisch (aber nicht psychoanalytisch) gesprochen kehrt sich die Reihenfolge um: Hat man die erste Schicht aus Gips freigemacht, tritt eine zweite hervor, nämlich die Malerei. Wird weiter gegraben, kommt die dritte Schicht—das Foto—zum Vorschein. Diese setzt sich schließlich aus einer letzten, papierenen Schicht zusammen.


Jenseits von Materialität und Haptik geht es in diesen Werken vor allem um die Dekonstruktion der Oberfläche. Stand am Anfang die Suche nach „Materialität“, weil die glatte Oberfläche überwunden werden musste, ist diese Materialität nicht mehr die Antwort auf die ursprüngliche Frage. Nachdem Bachhofer seinen unnachahmlichen Stil gefunden hat, stellen sich ganz neue Fragen, die jedoch unverändert mit der Auflösung von „Oberflächen“ zu tun haben—von Sehgewohnheiten, Schönheitsidealen und Glücksvorstellungen. Diese Dekonstruktionen berühren nicht mehr die Technik, sondern Ideen, die mit Hilfe der neugewonnenen Technik hinterfragt werden.


Anhand zweier Sujets (Natur und Heimat) lässt sich das ganz gut verfolgen. In verschiedenen Serien—'Urbane Vegetation', 'Nichts Wie Weg', 'Monolithe'—thematisiert Bachhofer unser Verhältnis zur Natur. Dem mythischen deutschen Wald der Romantik wird beispielsweise seine heilende Wirkung genommen, man kann sich zwangsläufig nicht mehr in dessen Schönheit verlieren. Umgekehrt erlauben es die Bilder nicht, das Erhabene oder Schauderhafte des romantischen Waldes zu zitieren, dafür ist die Gipsschicht zu dominant, der Entfremdungseffekt zu groß, die Technik zu offensichtlich. Das Meer hingegen, oft Symbol für Erneuerung und Lebenskraft, wird in der Bachhofer’schen Nahaufnahme zur tödlichen Bedrohung. Auch die beliebte Unterscheidung zwischen Stadt und Land—hier Stahl und Beton, dort Himmel und Erde—hält dem Künstlerblick nicht stand. Blühende Bäume in sonst kahlen Hinterhöfen erinnern daran, dass nicht nur der nächtliche Fuchs die Stadt zur Natur macht. Anstatt unsere Wünsche und Hoffnungen auf eine angeblich gesunde Natur jenseits der Stadtmauern zu projizieren, erzählen diese hybriden Fotografien davon, wie Stadt und Land ineinander greifen.


Vor allem in 'Hotel Daheim' und 'Nichts Wie Weg' geht es um den so genannten „Blutkreislauf des Lebens“. Auch in diesem Fall weigert sich Bachhofer, einfache Lösungen anzubieten. Weder idealisiert er das Reisen, noch identifiziert er Heimat mit einsamen Denkerhütten. Der Weg kann sowohl Bedrohung—der bellende, tollwütige Hund—als auch Hindernis—der sture, unnachgiebige Esel—sein. Heimatgefühle entstehen im Gasthaus (Hotel Daheim ist kein Widerspruch), auf einer Beerdigung (in der Gemeinschaft der Trauernden), im Bazar von Istanbul (umgeben von wohlbekannten Gesichtern). Niemand und nichts wird in diesen Bildern privilegiert. So ist der Status des Reisenden nicht höher einzuschätzen als das Leben eines sesshaften Bauern. Und so bedeutet die Diaspora nicht automatisch, über Wahrheiten zu verfügen, die der Rest der Menschheit nicht besitzt. „Let’s get out of this place“, der Ausgangspunkt unserer Erörterungen, muss man also nicht allzu wörtlich nehmen. Im Werk Joss Bachhofers sind Orte nicht materiell zu verstehen, der zitierte „Blutkreislauf“ ist vielmehr das Denken und Nach-Denken an sich. Die Materialität seiner Arbeiten hilft uns, das zu begreifen.

 

 

Mai 2014